
Ungleich behandelt – zwischen Evidenz und Realität
Die globale Versorgung von Patientinnen mit Zervixkarzinom spiegelt die Kluft zwischen globalen Gesundheitssystemen wider. Während in High-Income Countries (HIC) wie Österreich durch HPV-Impfungen und Screeningprogramme die Inzidenz sinkt und vermehrt Frühstadien erkannt werden, stellt die Erkrankung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs) eine der häufigsten Krebsbedrohungen dar.
Dieser Unterschied ist nicht biologischer, sondern systemischer Natur: Die aktuellen ESGO-Leitlinien 2023 zeigen, dass das 5-Jahres-Gesamtüberleben (OS) zwischen >90% (z.B. frühes Stadium in Österreich) und <60% schwankt. Nach GLOBOCAN 20201 wurden weltweit rund 604 000 neue Fälle und 342 000 Todesfälle durch Zervixkarzinom registriert. Über 88% dieser Erkrankungen traten in LMICs auf. Im Globalen Süden erfolgt die Diagnose häufig erst in fortgeschrittenen Stadien; in Lateinamerika z.B. werden >70% der Fälle im Stadium II oder höher erkannt.2
Therapie des Zervixkarzinoms im FIGO-Stadium IB2
Laut ESGO-Leitlinien (2023)3 und NCCN (v1.2024)4 ist bei einem Zervixkarzinom im FIGO-Stadium IB2 (Tumorgröße 2–4cm) die leitliniengerechte Behandlung entscheidend für das Überleben. Die Stadienzuteilung sollte neben der klinischen Evaluation mittels PET-CTs, spezialisierten Ultraschalls und/oder Becken-MRTs erfolgen. Als therapeutischer Ansatz ist die primäre Operation, im Sinne einer offenen radikalen Hysterektomie Typ C1/C2 nach Querleu-Morrow mit pelviner Lymphonodektomie, der Goldstandard. „Minimally-invasive“ Verfahren (MIS) sind seit 2018 (LACC-Trial) nur im Rahmen von klinischen Studien und nach angemessener Aufklärung der Patientin vertretbar. Eine Sentinellymphknotenbiospsie (SLNB) sollte vor Durchführung der pelvinen Lymphonodektomie erfolgen und einer Aufarbeitung mittels pathologischen Ultrastagings zugeführt werden. Bei der Hochrisikogruppe in der endgültigen Histologie des Operationspräparates (z.B. Lymphknotenmetastasen, positive Resektionsränder, Parametrienbefall) ist eine adjuvante cisplatinbasierte Radiochemotherapie obligatorisch. Mit dieser adäquaten Therapie kann das progressionsfreie Überleben (PFS) 80–85% betragen und das Gesamtüberleben (OS) zwischen 85–90% liegen.
Drei Frauen, drei Realitäten
Abena ist 39 Jahre alt, lebt im ländlichen Ghana und versorgt ihre Kinder alleine. Ihre Diagnose (Plattenepithelkarzinom der Zervix) erfolgt erst im lokal fortgeschrittenen Stadium – nach Jahren unspezifischer Symptome. Nur etwa 15,5% der Zervixkarzinome werden in Ghana früh erkannt.6 Die medizinische Versorgung ist lückenhaft, da es in peripheren Gebieten keinen Zugang zu MRT-Staging, PET-CT oder spezialisiertem Ultraschall gibt. Die operativen Eingriffe erfolgen häufig ohne onkologische Radikalität (z.B. inkomplette Parametrienresektion). Eine intraoperative pathologische Untersuchung ist quasi nie verfügbar. Postoperative Komplikationen (Infektionen, Harnleiterverletzungen, Blutverlust) sind aufgrund fehlender Infrastruktur häufig und werden oft nicht erkannt. Eine Radiochemotherapie ist häufig nur in zwei urbanen Zentren (Kumasi, Accra) verfügbar. Strukturierte Nachsorge, Rehabilitationsprogramme oder palliative Versorgung fehlen weitgehend. Das Gesamtüberleben der behandelten Frauen liegt bei geschätzt 60–70%. Das Rezidivrisiko, insbesondere im pelvinen Bereich, ist mit 30% deutlich erhöht. Ein Rezidiv bedeutet für viele Frauen und Familien das abrupte Ende der Behandlung – kurative Optionen existieren praktisch nicht.
„Of all the forms of inequality, injustice in health is the most shocking and the most inhuman because it often results in physical death.“
Martin Luther King Jr.
Mariana, 36 Jahre, lebt in der Peripherie von São Paulo. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Santarém, einer entlegenen Stadt im brasilianischen Amazonasgebiet. Wie viele Brasilianerinnen ist sie auf das öffentliche Gesundheitssystem (SUS) angewiesen. Hier erfolgt die Diagnosestellung oft spät (Stadium II oder höher bei 70% der Fälle).2 Auch nach operativer Therapie vergehen häufig 6–8 Wochen bis zum Beginn der adjuvanten Radiochemotherapie – wenn überhaupt ein Platz verfügbar ist. Laut EMBRACE-Studie7 erhöht jede vierwöchige Verzögerung der Adjuvanz das Rezidivrisiko um 15 %. Im öffentlichen Gesundheitssystem beträgt das 5-Jahres krankheitsfreie Überleben (DFS) ca. 80%, das OS ca. 75% und das Rezidivrisiko ca. 20%. Die sozioökonomische Realität Brasiliens spiegelt sich auch in der medizinischen Versorgung wider: ein Zweiklassensystem, das über Prognose und Therapieerfolg entscheidet. Im privaten System versicherte Patientinnen erhalten MRT-Staging, histologische Aufarbeitung, leitlinienkonforme Operation und adjuvante Therapie innerhalb von 30 Tagen – mit Überlebensraten auf europäischem Niveau (DFS/OS 85–90%, Rezidivrisiko <15%). Der auf den ersten Blick „überschaubare“ Unterschied im Gesamtüberleben von etwa 5–10% zwischen öffentlichem und privatem Sektor muss jedoch im Kontext der hohen Krankheitslast Brasiliens betrachtet werden: Jährlich werden rund 18000 Frauen neu mit einem Zervixkarzinom diagnostiziert und über 9000 Frauen sterben daran.8 Diese 5–10%-Differenz im OS repräsentiert somit Hunderte von Frauen, die allein aufgrund ungleicher Zugangsbedingungen in ein und demselben Land vermeidbar versterben.
Anna, 42 Jahre, lebt in Hall in Tirol. Ihre Diagnose (FIGO IB2, 4cm, LVSI+, ITCs in Lymphknoten) erfolgt durch ein zytologisches Screening im Rahmen der Vorsorge. Die Versorgung folgt (idealerweise) einem strukturierten Pfad: Vorstellung in einer spezialisierten onkologischen Ambulanz, Staging-Untersuchungen, multidisziplinäres Tumorboard binnen sieben Tagen. Es folgt die laparotomische radikale Hysterektomie Typ C1 mit pelviner Lymphonodektomie und bei ihrer Risikokonstellation die cisplatinbasierte adjuvante Radiochemotherapie ohne Verzögerung. Komplikationen bleiben statistisch unter 10%, die Betreuung erfolgt durch ein multiprofessionelles Team mit Psychoonkologie, Ernährungstherapie, Physiotherapie und sozialmedizinischer Beratung. Das OS beträgt etwa 90%, das Rezidivrisiko <15%. Im Falle eines Rezidivs stehen mehrere Optionen wie erneute Radiotherapie (auch palliativ), Immuntherapie (z. B. Pembrolizumab+Lenvatinib), Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (z.B. Tisotumab Vedotin) und die Teilnahme an Studien offen.
„To do“
Die Versorgung von Patientinnen mit Zervixkarzinom ist weltweit von enormen Disparitäten geprägt. Während HIC Fortschritte in der Präzisionsmedizin verzeichnen – einschließlich risikoadaptierter Deeskalation bei Low-Risk-Patientinnen, immunonkologischer Rezidivtherapie (Checkpoint-Inhibitoren) und innovativer Wirkstoffe (Tyrosinkinase-Inhibitoren, Antikörper-Wirkstoff-Konjugate) –, kämpfen Frauen wie Abena oder Mariana gegen strukturelle Hürden, Versorgungsverzögerungen und fehlende Optionen bei Rezidiv. Diese Kluft manifestiert sich im klinischen Alltag: Einige Patientinnen profitieren von noch nicht einmal offiziell zugelassenen Medikamenten, während andere an fehlender Infrastruktur und Geldmangel scheitern. Um globale onkologische Gerechtigkeit („onkologische Equity“) zu erreichen, sind folgende Maßnahmen essenziell:
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Primärprävention (flächendeckende HPV-Impfprogramme)
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Transnationale Wissenszirkulation (Ausbildungsinitiativen, chirurgische Mentoring-Programme, Technologietransfer)
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Kontextadaptierte Leitlinien (ressourcenadjustierte Algorithmen, Vermeidung subtherapeutischer Ansätze)
Denn medizinischer Fortschritt ist nur dann wirksam, wenn er betroffene Patientinnen erreicht.
Disclaimer: Die dargestellten Informationen und Fallbeispiele basieren großteils auf hypothetisch-deduktiven Annahmen. Die Autorin hat versucht, ein möglichst realitätsnahes klinisches Szenario aufgrund eigener Einblicke in die genannten Realitäten zu beschreiben. Dennoch kann dieser Artikel die Komplexität der tatsächlichen Versorgungssituation nicht annähernd vollständig abbilden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die dargestellten Szenarien dienen ausschließlich illustrativen Zwecken und als Denkanstoß.
Literatur:
1 Sung H et al.: Global cancer statistics 2020: GLOBOCAN Estimates of incidence and mortality worldwide for 36 cancers in 185 countries. CA Cancer J Clin 2021; 71(3): 209-49 2 Paulino E et al.: Panorama of gynecologic cancer in Brazil. JCO Glob Oncol 2020; 6: 1617-30 3 Cibula D et al.: ESGO/ESTRO/ESP Guidelines for the management of patients with cervical cancer – Update 2023. Int J Gynecol Cancer 2023; 33: 649-66 4 Abu-Rustum NR et al.: NCCN Guidelines® Insights: Cervical Cancer, Version 1.2024. J Natl Compr Canc Netw2023; 21(12): 1224-33 5 Ramirez PT et al.:. LACC trial: final analysis on overall survival comparing open versus minimally invasive radical hysterectomy for early-stage cervical cancer. J Clin Oncol 2024; 42(23): 2741-6 6 Nartey Y et al.: Risk factors for cervical cancer in Ghana. Cancer Rep (Hoboken) 2024; 7(6): e2124 7 Pötter R et al.: The EMBRACE II study: The outcome and prospect of two decades of evolution within the GEC-ESTRO GYN working group and the EMBRACE studies. Clin Transl Radiat Oncol 2018; 9: 48-60 8 HPV Information Centre. 2023. ICO/IARC Information Centre on HPV and Cancer. Brazil Human Papillomavirus and Related Cancers, Fact Sheet 2023 (2023-03-10). Retrieved online on July 30th 2025. https://hpvcentre.net/statistics/reports/BRA_FS.pdf
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